Aktuelle Forschung in Kürze
Wildschweine in Barcelona!
Hintergrund
Die Urbanisierung ist eine vom Menschen verursachte Umweltveränderung. Sie bringt Störungen durch Menschen oder Verkehrslärm, Schadstoffe und höhere Krankheitsübertragung mit sich, was eine Bedrohung für die Biodiversität bedeutet. Während viele Tierarten mit den Herausforderungen der Urbanisierung nicht zurechtkommen, sind andere in der Lage, in urbanen Umgebungen zu überleben und sogar zu gedeihen. Sie nutzen die verfügbaren menschliche Ressourcen und werden sogar von ihnen abhängig.
Um in der vom Menschen veränderten Umwelt zu überleben, müssen sich Wildtiere durch Verhalten, Morphologie, Physiologie und/oder genetische Veränderungen an den herausfordernden Selektionsdruck urbaner Gebiete anpassen. Zum Beispiel nutzen urbane Rotfüchse erfolgreich menschliche Nahrungsquellen in städtischen Gebieten, städtische Kohlmeisen ändern ihre Gesangsfrequenz an lauten städtischen Standorten, städtische Steinmarder präferieren Gebäude als Höhlenplätze gegenüber natürlichen Höhlenplätzen, vorstädtische australische Elstern beginnen früher mit dem Brüten als ländliche, und städtische Eidechsen zeigen ein mutigeres Verhalten als ländliche.
Die hier vorgestellte Studie untersuchte die Auswirkungen der Urbanisierung bei einer grossen, sehr anpassungsfähigen und weit verbreiteten Art: dem Wildschwein.
Methode
In Spanien werden bereits seit 1998 Wildschweine im Gebiet von Barcelona – einem sehr urbanen Raum – gesichtet. Von 2005 bis 2018 sammelte das Untersuchungsteam Wildschweindaten und -proben aus drei Gebieten im Nordosten Spaniens: einem urbanen (Stadt Barcelona, 445 Wildschweine) und zwei nicht urbanen Gebieten (Naturpark Serra de Collserola, 183 Wildschweine, und Naturpark Sant Llorenç del Munt i Serra de l’Obac, 54 Wildschweine). Die städtischen Wildschweine wurden im Rahmen von kritischen Begegnungen mit Stadtbewohner*innen eingefangen und später eingeschläfert. Wildschweine aus Serra de Collserola wurden während der regulären Jagdsaison geschossen. Die Wildschweine aus Sant Llorenç del Munt i Serra de l’Obac wurden mit Käfigfallen gefangen genommen. Untersucht wurde, ob die Verstädterung die Körpergröße, die Körpermasse, die Körperkondition und die Konzentration von Metaboliten im Blutserum der Wildschweine beeinflusste. Dabei wurde auch der Einfluss von Alter, Geschlecht und Nutzung menschlicher Nahrungsressourcen berücksichtigt.

Resultate
Wildschweine aus dem städtischen Gebiet hatten eine grössere Körpergrösse, eine höhere Körpermasse, eine bessere Körperkondition und eine höhere Triglycerid- und niedrigere Kreatinin-Konzentration im Blutserum als Wildschweine aus ländlichen Regionen. Ausserdem nahmen städtische Wildschweine häufiger Nahrung menschlichen Ursprungs zu sich.
Diskussion
Ein sehr wahrscheinlicher Grund für die physiologischen Veränderungen ist die Nahrung aus menschlichen Quellen, welche deutlich energiereicheres Futter liefern als natürliche Quellen. Diese Hypothese wird auch durch die Triglycerid-Konzentration im Blut gestützt. Triglycerid ist ein Nahrungsfett und dessen Konzentration im Blutserum ist bei Verzehr von fettiger Nahrung erhöht. Umgekehrt deutet die niedrigere Konzentration von Kreatinin bei den städtischen im Vergleich zu den nicht-städtischen Wildschweinen darauf hin, dass eine energiereiche Ernährung die Wildschweine größer und dicker macht, aber nicht ihre Muskelmasse erhöht. Kreatinin ist direkt mit der Muskelmasse korreliert.
Besonders im Frühling und im Sommer haben sich die städtischen Wildschweine aus menschlichen Nahrungsquellen ernährt. Im Frühling ist der Energiebedarf durch die Aufzucht der Ferkel und im Sommer durch die Wachstumsphase erhöht. Zudem ist in mediterranen Gebieten in dieser Jahresperiode die natürliche Nahrung knapp.
Studien über die Auswirkungen von Zusatzfütterung in freier Wildbahn haben jedoch auch gezeigt, dass langfristige Fütterungspraktiken zu einer Abhängigkeit von Zusatzfutter, Gewöhnung an den Menschen, Störung der normalen Aktivitäten und Ernährungsproblemen wie Stoffwechselstörungen einschließlich Fettleibigkeit führen können. Beim Verzehr von Nahrung aus menschlicher Quelle besteht ausserdem die Gefahr, dass darin enthaltene Schadstoffe, Gifte und Toxine aufgenommen werden. Darüber hinaus kann die Ansammlung um Futterstellen auch die Übertragung von Krankheitserregern erhöhen. Ein Vergleich des Alters lässt darauf schliessen, dass die städtischen Wildschweine nicht ein gleich hohes Alter erreichen wie Wildschweine aus ländlichen Regionen. Das hohe Nahrungsangebot lockt die Wildschweine in Gebiete mit grösseren Risiken, was die Sterblichkeit der Tiere erhöht.
Die Studie konnte aufzeigen, dass sich die Wildschweine im städtischen Raum verändern und anscheinend gut gedeihen. Das Leben in der Stadt birgt aber auch viele Risiken, was wahrscheinlich zu einer kürzeren Lebensdauer führt. Die Autor*innen gehen davon aus, dass sich Wildschweine in Zukunft auch in anderen Städten ausbreiten werden. Für die Studie wurden die Wildschweine getötet. Weshalb die Tötung nötig war, wird von den Autor*innen nicht begründet. Es wäre wünschenswert, wenn Reviewer in einem solchen Fall ethische Rückfragen stellen würden.